"Laut Schätzungen ist jeder siebte Mensch hochsensibel" steht auf dem Klappentext von Eliane Reichardts neuem Buch und Herzensprojekt "Hochsensibel". Ein Grund mehr, sich mit dem Thema auseinander zu setzen. Denn die Wahrscheinlichkeit, dass du oder jemand in deinem nahen Umfeld die Umgebung intensiver und detaillierter - also anders als der Durchschnitt - wahrnimmt, ist hoch!
Eliane Reichardt erzählt uns von ihrem Werdegang als Hochsensible, von Stärken und vermeintlichen Schwächen und wie du herausfindest, ob auch du dazu gehörst:
Hallo Frau Reichardt und vielen Dank, dass Sie sich Zeit für uns genommen haben. Sie bezeichnen sich selbst als hochsensibel und arbeiten als Fachdozentin, Beraterin und Coach mit anderen Hochsensiblen zusammen. Vor kurzem haben Sie Ihr Buch „Hochsensibel“ veröffentlicht. Was genau hat Sie dazu motiviert dieses Buch zu schreiben?
Eliane Reichardt: *lächelt* Aufklärung. Hochsensibilität betrifft 15 bis 20% der Bevölkerung. Frauen, Männer und Kinder. Und es ist immer noch nicht umfänglich bekannt. Das allein ist schon Grund genug. Aber es gibt noch zwei weitere Punkte, die mir sehr wichtig waren und sind: Zum einen gibt es mittlerweile sehr viele Bücher, Internetseiten, -foren und einzelne Artikel zum Thema. Dem entsprechend kursieren – wie bei allen anderen Themen wohl auch – viele Fehl- und Falschinformationen. Mit meinem Buch stelle ich klar, was Hochsensibilität ist, was es konkret beinhaltet und was es eben nicht ist und nicht beinhaltet. Zum anderen ist „Anderssein“ in unserer heutigen Gesellschaft wenig anerkannt und das führt häufig zu Krankheitsbezeichnungen (Diagnosen), die schlicht falsch sind.
Hochsensible sind anders. Sie scheinen nicht in die heute gültige Norm zu passen, fühlen sich nicht „kompatibel“, fremd in dieser Welt, teilweise wie von einem anderen Stern. Ich möchte meine Leser dazu ermuntern, die Aspekte ihres Andersseins als das anzunehmen was sie sind: Ganz normale und vor allem sehr gesunde Facetten ihrer Persönlichkeit. So wie sie sind, sind sie (von der Natur) gedacht. Und das ist richtig, wichtig und gut so.
Ich möchte auch normalsensible Menschen mit meinem Buch erreichen und damit einen Beitrag dazu leisten, dass sie ihre vielleicht negative Sichtweise auf Hochsensible ein Stück weit verändern und die vielen positiven Aspekte der Hochsensibilität erkennen können.
Wie und wann haben Sie gemerkt, dass Sie Ihre Umgebung anders als die anderen wahrnehmen, also hochsensibel sind?
Eliane Reichardt: Dass ich anders wahrnehme, anders denke und anders fühle als andere, war mir schon in frühester Kindheit klar. Ich mochte viele Dinge nicht, die „man eben macht“ oder sagt, konnte mich damit nicht identifizieren. Ich habe immer schon Regeln hinterfragt – und mich gewundert, dass andere das offenbar nicht taten. Gleichaltrige waren mir meist zu „kindisch“, ich konnte nicht viel mit ihnen anfangen, hatte andere Interessen. Sie waren mir auch oft zu laut und zu „rüpelhaft“. Auf dem Schulhof in den Pausen zum Beispiel. Da stand ich lieber am Rand und habe dem Treiben nur zugesehen. Ich habe schon immer Gewalt verabscheut und diese wilden Kinderspiele hatten für mich eben auch gewaltvolles an sich. Ich war nicht ängstlich, stand dem Ganzen aber verständnislos gegenüber. Während andere „Vater-Mutter-Kind“ spielten, habe ich mir Gedanken über ganz andere Dinge gemacht. Zum Beispiel hat mich eine Zeit lang die Frage beschäftigt, wie mein Leben wohl aussähe, wäre ich in ein anderes Elternhaus geboren. Da war ich etwa vier oder fünf Jahre alt. Nicht, dass ich mit meinem Elternhaus in irgend einer Weise unzufrieden gewesen wäre, ganz im Gegenteil. Aber diese Frage hat mich eben beschäftigt. Ich hatte auch nie Interesse oder gar Spaß daran, andere zu ärgern, wie Kinder das häufig gern machten. Ich konnte keinen Sinn darin finden, andere bewusst zu erschrecken, ihnen weh zu tun oder sie zu hänseln. Noch heute stehe ich solchen Verhaltensweisen mit Unverständnis bis Abscheu gegenüber.
So oder ähnlich verlief mein ganzes Leben. Ich habe immer über andere Dinge nachgedacht, als andere – und mich dem entsprechend natürlich auch anders verhalten. Aber ich empfand das auch nie als schlimm – wenngleich ich manchmal schon ganz sachlich feststellte, dass ich damit recht allein auf weiter Flur war.
Es gab auch Phasen, in denen ich ausgesprochen extravertiert war. Dazugehörig fühlte ich mich aber auch in diesen Zeiten nicht. Dass „das Kind einen Namen hat“, habe ich erst mit über 50 festgestellt. Seit dem brenne ich für dieses Thema.
Viele Menschen wissen nichts von ihrer Veranlagung und können so nicht spezifisch auf ihre Stärken und Schwächen eingehen. In Ihrem Buch gibt es einen tollen Selbsttest dazu! Können Sie uns für dieses Interview kurz beschreiben, was einen hochsensiblen Menschen ausmacht und wie man erkennt, ob man selbst hochsensible Züge hat?
Eliane Reichardt: Hochsensible fühlen sich meist seit sie denken können diffus anders. Das ist ein wichtiger Anhaltspunkt. Des weiteren kommt in den allermeisten Fällen eine auffallende Geräuschempfindlichkeit hinzu, in vielen Fällen auch Lichtempfindlichkeit. Viele stellen eine leichte (körperliche) Übererregbarkeit an sich fest, sowohl bei positiven als auch bei negativen oder auch scheinbar neutralen Anlässen. Zudem denken Hochsensible viel nach und auch vor, verarbeiten Informationen (Erlebnisse) sehr viel intensiver, als andere. Deshalb klingen Erlebnisse auch lange in ihnen nach. Und nicht zuletzt sind Hochsensible in aller Regel emotional sehr empfindsam, sie erleben ihre Emotionen sehr intensiv.
Ich sage hier ganz bewusst nicht empfindlich, den das wäre nicht richtig. Während emotionale Empfindsamkeit auch Empathie für sich selbst und andere mit sich bringt, bezieht emotionale Empfindlichkeit sich nur auf die eigene Person und das ist kein Kriterium für Hochsensibilität. An dieser Stelle entstehen die größten Missverständnisse und hier sollte man genau hinschauen und unterscheiden. Nicht jeder sichtlich emotionale Mensch ist hochsensibel und nicht jeder Hochsensible ist sichtlich emotional.
Hochsensibilität wird in der Gesellschaft noch als Ausnahme“zustand“ gesehen, dabei schreiben Sie in Ihrem Buch, dass cirka jeder siebte Mensch hochsensibel veranlagt ist. Denken Sie, dass das schon immer so ist, oder hängt das mit der Entwicklung unserer Gesellschaft und Umwelt zusammen?
Eliane Reichardt: Hochsensibilität hat es schon immer gegeben und sie ist angeboren, also vererbbar. Dass sie heute sehr viel deutlicher auffällt, als noch vor 30 bis 50 Jahren, ist sicher eine Folge unserer gesellschaftlichen, vor allem der technischen Entwicklung. Heute werden unsere fünf Sinne wesentlich mehr strapaziert als noch vor ein paar Jahrzehnten und auch unsere ethischen Werte, unsere Empathie und Emotionalität werden durch die Informationsflut bis über die Grenzen hinaus belastet. Selbst der hochsensible Körper ist mit einbezogen, denn veränderte Nahrungsmittel und alles, was damit zusammenhängt, sorgen dafür, dass auch körperliche Reaktionen nicht ausbleiben. In Summe sorgen diese auf allen Ebenen veränderten Lebensbedingungen also dafür, dass Hochsensible heute deutlicher auffallen.
In welchen Bereichen treffen hochsensible Menschen auf die meisten Probleme?
Eliane Reichardt: In allen Bereichen, die Hochsensibilität ausmachen. Am auffälligsten ist der sensorische Bereich, der in Zeiten von visueller, akustischer und olfaktorischer (Gerüche) Überbelastung schnell zur Reizüberflutung führen kann. Empathie und Emotionen werden durch die Masse von Sensationsnachrichten extrem belastet. In beiden Bereichen kommt auch die Übererregbarkeit zum Tragen. Dazu kommt die bisher noch wenig beachtete körperliche Belastung, die durch falsche („moderne“) Ernährung und z. B. übermäßigem Medikamentengebrauch, Umweltgiften und zu wenig Bewegung schnell zu einem Ungleichgewicht in der Körperchemie führen kann, die Hochsensible wesentlich eher als belastend wahrnehmen, als andere, wenngleich sie ihr „Unwohlsein“ nicht immer gleich einordnen können.
Und was können sie besser oder leichter als andere Menschen?
Eliane Reichardt: Die Attribute „besser“ und „leichter“ passen in diesem Zusammenhang nicht sehr gut, denn alle Menschen können Dinge, die ihnen eben „liegen“ sehr gut. Das hängt zum Teil davon ab, welche Fähigkeiten sie von Natur aus mitbekommen haben. Hochsensible können aufgrund der Ausstattung ihrer Persönlichkeit andere Dinge, als Normalsensible besonders gut, dafür können sie viele Dinge, die Normalsensible „aus dem ff“ beherrschen, weniger gut bis gar nicht.
Im sensorischen Bereich (unsere fünf Sinne betreffend) sind manche von ihnen wahre Seismographen. Sie hören Geräusche, die andere gar nicht wahrnehmen, und können dadurch im Extremfall Gefahren von sich und anderen abwenden. Sie riechen Dinge, die anderen verborgen bleiben, z. B. Schimmelpilz in Wänden und Lebensmitteln oder auch herannahenden Regen oder Schnee. Manche können kleinste Veränderungen im Luftdruck wahrnehmen, so dass sie schon Stunden vorher wissen, ob ein Sturm aufzieht, auch wenn den Himmel noch kein Wölkchen trübt.
Ich habe vor Jahren einen Fall erlebt, bei dem ein Hochsensibler mit Übererregung, die sich durch innere Unruhe, Zittern, Schweißausbrüche und Panikattacken äußerte und sich bis zu Herzrhythmusstörungen steigerte, ins Krankenhaus gebracht werden musste. Ein paar Stunden später, nachdem ein Erdbeben ausbrach, ging es ihm schlagartig besser und nachdem das Beben abgeklungen war, waren alle Symptome gänzlich verschwunden. Er hat so etwas bis heute nicht wieder erlebt. Allerdings war er seit dem auch nicht mehr in der Nähe eines Erdbebens.
Hochsensible denken nicht nur intensiv nach, sondern auch sehr viel vor. Das prädestiniert sie geradezu dafür, komplexe theoretische Sachverhalte zu verstehen und zu analysieren. Das ist in manchen Berufen eine sehr willkommene, geradezu notwendige Fähigkeit. Für helfende Berufe sind sie durch ihre Empathie geradezu wie gemacht, wenn sie sich angemessen vom Leid anderer Menschen abgrenzen können. Sie verstehen es sehr gut, zwischen den Worten zu hören und zwischen den Zeilen zu lesen, so dass sie nahezu jeden Menschen (und auch Tiere) dort „abholen“ können, wo er steht. Durch ihre komplexe Denkweise, sind sie in der Lage, sehr vorausschauend zu handeln, in dem sie alle möglichen Eventualitäten mit einbeziehen und meistens liegen sie damit richtig. Und sie sind außerordentlich kreativ.
Zum Abschluss: Gibt es einen wichtigen Ratschlag, den Sie jemandem mit auf den Weg geben möchten, der vermutet, dass er hochsensibel ist?
Eliane Reichardt: Ja, den gibt es: Wenn Sie vermuten, dass Sie hochsensibel sein könnten, dann beschäftigen Sie sich intensiv mit diesem Thema. Lesen Sie darüber was immer Sie finden können, besuchen Sie Vorträge und Seminare bei ausgewiesenen Fachleuten, tauschen Sie sich mit Gleichsinnigen aus, nehmen Sie auch Hilfe in Form von Beratung und Coaching in Anspruch, werden Sie Experte in eigener Sache! Dann werden Sie sich in dieser Welt bestens zurechtfinden und Ihre Stärken in Ihr persönliches/berufliches Leben und auch in unsere Gesellschaft einbringen können.
Vielen Dank liebe Frau Reichardt für dieses schöne Interview!
Eliane Reichardt: Sehr gerne! Ich habe zu danken!
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Autorin: Bettina Janssens, www.ohmyyogi.de